Für das sportliche Training gilt: Immer beide Seiten trainieren! Nur so vermeidet man auf Dauer muskuläre Dysbalancen. Diese Unwuchtigkeiten in der Muskelverteilung müssen dabei noch nicht einmal sichtbar oder auffällig sein und können dennoch zu weitreichenden Folgeschäden führen: Rückenschmerzen, negative Auswirkungen für die knöcherne Haltestruktur, Kraftverlust, Schieflage – im wahrsten Sinne des Wortes. Sind wir muskulär erst einmal aus dem Gleichgewicht geraten, so dauert es lang und ist mit harter Arbeit und durchaus auch mit Schmerzen verbunden, das notwendige Gleichgewicht wiederherzustellen.
Das Dumme: Das Training beider Seiten kostet nicht nur doppelt so viel Zeit und Kraft, es macht – vor allem wenn es um die „andere“ Seite geht, meist keinen Spaß. Und weil wir die Folgeschäden nicht sehen wollen, uns im Moment ja noch nichts weh tut und man generell lieber das macht, was einem mehr „liegt“, vernachlässigen wir die „andere Seite“.
Wie im Körper, so im Geist – es lässt sich auch auf das Training der Offenheit übertragen.
Dysbalance und Unwucht
Die „andere“ Seite zu trainieren, macht – um ehrlich zu sein – keinen Spaß. Zumindest nicht am Anfang. Zumindest nicht die ersten 100 Male. Es ist anstrengender, es fühlt sich komisch an, man fühlt sich wesentlich unsicherer, man hat das Gefühl, Dinge, die man auf der einen Seite wirklich beherrscht, komplett neu lernen zu müssen und selten ist das Ergebnis mit der Wunschvorstellung identisch. Also warum sollte man das tun? Eine Seite reicht doch vollkommen aus.
Das Wissen und die Verantwortung für die teilnehmenden Personen und auch für den eigenen Körper macht es möglich, sich immer wieder vor diese ungeliebte Herausforderung zu stellen. Weil man weiß, was passiert, wenn man es nicht macht.
Dieses Wissen kann man theoretisch oder praktisch erwerben. Der praktische Erwerb ist dabei bitterer, der theoretische Erwerb setzt das Vertrauen in die Person voraus, die mir da was von muskulären Dysbalancen erzählt.
Und so ist der erste wichtige Punkt die andere Seite eben nur „die andere“ zu nennen und nicht „die Schlechte“. Es ist neu, es ist ungewohnt, es fühlt sich komisch an, es kostet Zeit und Kraft, aber allein diese Punkte machen die zweite Seite nicht automatisch zu „schlechteren“. Und so ist es ein Akt der Sprachhygiene einfach nur von der anderen Seite zu sprechen.
Unsichtbar bahnen sich die Folgeschäden ihren Weg
Und ja, ich spreche aus Erfahrung. Die ersten 1,5 bis 2 Jahre habe ich die meisten Dinge nur einseitig trainiert, weil man es so gelernt hatte. Dann kam ich im Rahmen eines Workshops mit einer Trainerin in Berührung, die die gesamte Gruppe immer wieder unerbittlich zum Training der zweiten Seite „zwang“. Dafür hat sie keine Anerkennung bekommen, vielmehr fühlte man sich fast ein wenig persönlich beleidigt.
Und dennoch, obwohl mir ihre Erklärungen nicht schmeckten, war ich bereit dem Ganzen eine Chance zu geben. Mit Erfolg.
Kombinationsmöglichkeiten
Die Chance gab ich dem Wissen dieser Trainerin auch
deswegen, weil ich mittlerweile eine Schiefstellung des Schultergürtels im Spiegel
erkennen konnte und darauf hin weiter recherchierte, mich mit Fachleuten
austauschte. Dieser Austausch zu einem Thema, welches mir bis dahin zum einen
nicht wichtig schien und zum anderen bedeutete, dass ich aus meiner Komfortzone
raus musste, war der Verantwortung geschuldet, nicht der vollkommenen Freiwilligkeit
oder einem Lustfaktor, der damit verbunden gewesen wäre.
Nein, die Folgeschäden, die sich einstellen können, die wollte ich nicht haben.
Zudem – mit wachsender Erfahrung und Routine kamen ein paar Erkenntnisse dazu, die mir zeigten, dass ein Training der anderen Seite durchaus Sinn macht.
Ich merkte, dass mir weniger Kombinationsmöglichkeiten und Übergänge zur Verfügung standen, weil Trick a nur auf Seite a und Trick b nur auf Seite b gut funktionierten, um diese beiden Tricks, die wunderbar zusammenpassen würden, auch wirklich zusammenbringen zu können, müsste ich also mindesten einen der beiden Tricks auch auf der anderen Seite lernen und üben.
Auch geistig in Balance bleiben
Und ich gehe im Training heute soweit, wie es mir körperlich möglich ist und schätze dabei immer Kosten und Nutzen ab.
So ähnlich ist es auch mit den Informationen, die einem zur Verfügung stehen.
Informationen, die per se der eigenen inneren Haltung und Überzeugung entsprechen, sind leichter zu internalisieren, stärken sie doch indirekt die eigene Meinung.
Dennoch weiß ich, dass – sollte ich nur in dieser einen Richtung bleiben - sich gedankliche Dysbalancen ergeben werden, die einen klaren Blick auf Dauer verschleiern können.
Und so lese ich auch Artikel und sehe mir YouTube Videos an, die ich persönlich als Ausgeburt der Absurdität empfinde. Aber ich zwinge mich, nicht gleich wegzuklicken, sondern möglichst objektiv darauf zu achten, ob tatsächliche Informationen darin vorhanden sind, oder ob nur Fragen gestellt werden. Ich achte auf die Wortwahl und auf Manipulationstechniken, ich recherchiere über die Autorinnen und Autoren.
Das tue ich aber auch bei den Artikeln, die mir gefallen, die meinem Denken entsprechen. Ich zwinge mich, hier auch „advocatus diaboli“ zu sein.
Das macht keinen Spaß. Manchmal fühlt man sich wie ein Negativ-Mensch auf ständiger Fehlersuche.
Vorteile
Ich bin der Meinung, nur, wenn ich auch der anderen Seite Raum und Zeit einräume, kann ich auf Dauer in Balance bleiben. Nur, wenn ich bereit bin, meine (gedankliche) Komfortzone zu verlassen, habe ich überhaupt die Möglichkeit, so etwas wie Objektivität walten zu lassen. Obwohl sich natürlich die Frage stellt, ob ein einzelner Mensch überhaupt zur Objektivität fähig ist.
Nur wenn ich bereit bin, mir selbst in den Allerwertesten zu
treten, mich selbst herauszufordern, auch gedanklich, kann ich wachsen. Nur
dann kann ich zuhören, nur dann kann ich kombinieren.
Bleibe ich stets bei dem, was mir gut gefällt, was sowieso meinem Denken
entspricht und was ich schon kann, so stehen mir wertvolle und außergewöhnliche
Kombinationsmöglichkeiten irgendwann nicht mehr zur Verfügung. Ich werde im
wahrsten Sinne des Wortes einseitig. Und Einseitigkeit kann niemals objektiv
sein.