„Wenn Du es eilig hast,
lass’ Dir Zeit.“ – „Arbeite konzentriert.“
Alle diese Aussagen haben ihre Berechtigung und doch
vernachlässigen sie einen wichtigen Aspekt des Weges und der Zeit:
Respekt, Ästhetik und das Auskosten dessen, was gerade
ist.
Kraftreservenökonomie
Was sehr kryptisch klingt,
ist das Ergebnis von Beobachtungen beim Erlernen neuer Moves (an der Pole, im
Hoop, beim Yoga, im Tanz). Vor dem geistigen Auge steht das Ziel des
Endergebnisses. Ziel ist die Figur, der Move, der am Ende klappen soll. Auf dem
Weg dorthin werden somit manchmal wichtige Punkte vernachlässigt oder
vergessen. Das ist ganz selten böse Absicht, sondern vielmehr das Resultat des
Zusammenspiels von Kraftreservenökonomie, Aufregung und mentaler Anspannung.
Anfangs muss man sich die
Kraft einteilen. Und da der Großteil der Kraft für die neue Bewegung zur
Verfügung stehen soll, muss man eben schnell durch die Teilschritte hetzen.
Unsicherheit attackiert Souveränität
Dazu kommt die Anspannung,
die Aufregung: Wird es klappen? Tut diese neue Figur weh? Brauche ich dafür
Fähigkeiten, die ich jetzt noch nicht abschätzen kann: Abwesenheit von Angst,
Flexibilität, Kraft in bestimmten Bereichen des Körpers? Diese Fragen
verursachen Unsicherheit. Unsicherheit führt zum Verlust von Souveränität.
Dieses Phänomen kann aber
auch dazu führen, dass Tricks und Figuren, die Voraussetzungen für andere
Figuren darstellen, auf einmal besser klappen, weil sie gar nicht mehr so sehr
im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, sondern mitunter als „notwendiges Übel“ auf
dem Weg zum eigentlichen Ziel gesehen werden.
Wenn Teilschritte zur Selbstverständlichkeit werden
Will man an der Pole
beispielsweise eine Figur üben, deren Voraussetzung der Inside oder Outside Leg
Hang, oder gar der Superman ist, so kann man beobachten, dass auf einmal die
schmerzhaften Druckpunkte und die brennende Haut mental ausklammert. Ähnlich
sieht es im Hoop aus: Lifts und Mounts, kraftraubende und manchmal verhasste
Übel, werden auf dem Weg zur nächsthöheren Figur – im wahrsten Sinne des Wortes
– einfach gemacht.
Manchmal stellt man sogar
fest, dass diese Figuren wie von Zauberhand besser funktionieren und wieder und
wieder trainiert und ausgeführt werden, weil sie auf dem Weg zur Endfigur
einfach sein müssen und eine Prämisse darstellen, an der man nicht vorbei
kommt.
Zwei Seiten
Allerdings gibt es wie bei
fast allen Dingen auch hier zwei Seiten. Die Wertschätzung dessen, was man so
„nebenbei“ macht, kommt zu kurz. Der Respekt für den körperlichen Aufwand
sinkt, was gestern noch als ein hochgestecktes Ziel galt, ist heute einfach nur
ein Muss auf dem Weg zu einem neuen Ziel.
Man entwickelt sich weiter,
Ziele werden höher gesteckt, das Können und die Fertigkeiten nehmen zu.
Und doch ist es den wichtigen
Teilschritten gegenüber unfair. Jeder Schritt auf dem Weg zum Erfolg hat
Respekt und Wertschätzung verdient.
Der Fokus und das Selbstwertgefühl
War man gestern noch stolz
darauf, Figur A (endlich) geschafft zu haben, so scheint sie heute kaum mehr
beachtet zu werden. Sie wurde auf dem Weg zum nächsten Ziel zur Selbstverständlichkeit.
Nicht nur das, was in Zukunft
vielleicht einmal sein kann ist wichtig, sondern auch das, was man schon
erreicht hat, was man sich erarbeitet hat.
Legt man den Fokus nur auf
noch zu erreichende Ziele, so wird man immer mit dem Gefühl der Unzulänglichkeit
zurückgelassen. Und da es zu Beginn des Trainings neuer Figuren normal ist,
dass diese selten auf Anhieb klappen, kann man sich selbst so wunderbar in eine
Spirale der Frustration manövrieren.
Zelebrieren der Teilbewegungen
Tanz entsteht dann, wenn
Bewegungen im gleichmäßigen Fluss spielend ineinander übergehen. Tanz ist an
den Tag gelegtes Rhythmusgefühl des Körpers. Würde sich in einem Musikstück der
Takt und die Schlagzahl, das Tempo und die Geschwindigkeit alle 3 Sekunden
ändern, so würden wir das Zusammenspiel der Töne und Instrumente nicht
unbedingt als gefällig empfinden (außer man steht auf Jazz!).
Ähnlich ist es beim Ablauf
von Bewegungen im Sport.
Every second counts
Raum einnehmen, sich seiner
Größe bewusst sein – das hat nicht nur etwas mit der räumlichen Komponente zu
tun, sondern auch mit der zeitlichen. Je mehr man auch die notwendigen
Teilbewegungen zu schätzen lernt, umso ästhetischer, sauberer und genauer wird
man sie ausführen. Und dann ist es auf einmal auch nicht mehr schlimm, wenn man
das Endergebnis nicht (immer) erreicht.
Das Einnehmen der
Grundhaltung, die tänzerisch notwendige Größe und Anspannung, die Vorbereitung
des Körpers auf das, was da als nächstes kommt, ist schön! Je sauberer die
Teilschritte ausgeführt werden, umso wahrscheinlicher ist es, dass man auch das
Ziel erreichen wird.
Ein Foto für jede Sekunde
Im Unterricht sage ich oft,
man möge sich im Spiegel betrachten. Dann, wenn man das Gefühl hat, ein
außenstehender Beobachter könnte zu jeder Zeit ein Foto machen und das Ergebnis
wäre nicht schlecht, sondern würde die Passion, die Leidenschaft, die
Sauberkeit, die Ästhetik zeigen die der Sport und die Person in sich trägt,
dann hat man den notwendigen Respekt für die Teilschritte walten lassen.
If you stumble, make it part of the dance
Und wenn man dies zum
Grundsatz hat werden lassen, so kann man auch in scheinbar „missglückten“
Versuchen etwas Schönes sehen. Dann fällt niemandem auf, dass man eigentlich ein
anderes Ziel vor Augen hatte, als man die Teilschritte auf dem Weg zum
antizipierten Endergebnis ausgeführt hat. Denn dann ist jede Bewegung für sich
so schön, so klar und so souverän, dass es fast schon egal ist, was man „eigentlich“
erreichen wollte.